Lesen ist eine Kulturtechnik, die durch die Digitalisierung gleichermaßen gewonnen wie verloren hat. Aber manchmal, so fürchte ich: Sie hat mehr verloren.
Lesen bedeutet, sich Universen von auf Papier geronnenen Gedanken oder von elektronischen Impulsen aus den Weiten des Cyberspace anzuverwandeln und zu eigen zu machen. Schwarz-Weiß-Kontraste zu Buchstaben, Worten und Sätzen geformt, werden zu Abziehbildern für die Fantasie. Welten zwischen zwei Buchdeckel gepresst wie in ein Gedanken und Vorstellungen konservierendes Herbarium.
Apropos Buchdeckel. Ich liebe Bücher. Also, wie es neuerdings auch heißt – Holzbücher, Print. Der Geruch eines neuen oder alten Buches. Die Haptik von Einband und Papier. Das Gefügigmachen des meist sperrigen Buchblocks eines neuen Buches. Altbekannte, zerlesene und liebgewordene Bücher, die sich dagegen ganz von selbst öffnen und freiwillig Lieblingsstellen preisgeben, in die man sofort eintauchen kann, wie in eine lang vertraute Geliebte. Buchrücken, deren Phalanx einen in Regalen umsteht und die profanen eigenen vier Wände ins Fiktionale erweitern.
Natürlich liebe ich auch E-Books. Eine ganze Bibliothek, die man auf seinem Reader mit sich herumtragen kann. Tausende von Seiten, wie von Zauberhand aus dem Cyberspace heruntergeladen. Hätte man Herman Melville, als er im Jahre 1850 das fertiggestellte Manuskript seines Moby Dick für seinen Verleger ordnete, gesagt, dass sich dieses Konvolut von neunhundert handgeschriebenen und immer wieder mit Korrekturen und Verweisen versehenen Seiten dereinst in Sekundenschnelle für jedermann in ein kleines, transportables Sichtgerät bannen ließe, hätte er vielleicht sein Zeitgenosse Jules Verne sein müssen, um dies für möglich halten zu können.
Lesen erfordert Lebenszeit und auch wenn es beim Lesen um geistige Inhalte geht, sind wir Menschen letztlich physisch verfasste Wesen. Und gerade, wenn es sich um ein Buch handelt, das bleibende Spuren hinterlassen hat, scheint mir daher dessen solider Buchrücken im Regal eine nachdrücklichere Erinnerung daran, eine manchmal nicht unbeträchtliche biographische Strecke mit eben diesem Buch verbracht zu haben als eine flüchtige Datei auf dem E-Reader. Nach der Lektüre bleibt die Datei auf dem E-Book leblos. Das Buch im Regal behält Gestalt und Bedeutung.
Analog zu lesen ist wie eine Langspielplatte zu hören. Man setzt die Nadel auf den Rand der Vinylscheibe und sie folgt den konzentrischen Kreisen der Rille bis zu deren Mittelpunkt. So blättert der Leser eines Holzbuches eine Seite nach der anderen um, bis allmählich der Packen noch nicht gelesener Seiten rechts immer dünner und der Packen gelesener Seiten links immer dicker wird und schließlich die letzte Seite aufgeschlagen ist.
Völlig anders dagegen das digitale Musikhören und Lesen. Eine MP3-Datei filtert alle Hintergrundgeräusche weg. Jeder Track ist unmittelbar und treffgenau anzusteuern, ohne umständlich die Nadel aus der Rille nehmen und neu aufsetzen oder gar die Platte umdrehen oder wechseln zu müssen. Auch beim E-Book lässt sich jede Stelle, die man noch einmal nachlesen oder verifizieren möchte, sofort dingfest machen. Die digitale Suche bringt unbestreitbare Vorteile, in ganz besonderem Maße aber für die Erschließung von Wissen im Netz.
Positives Wissen und in zunehmendem Maße auch Antworten auf komplexere Fragen lassen sich punktgenau recherchieren und finden. Musste man sich früher auf das Grundrauschen von Sach- und Fachbüchern einlassen, also auf alles das, was dem ganz speziellen Erkenntnisinteresse nicht unmittelbar 1:1 entsprach, lassen sich jetzt in kürzester Zeit auf den verschiedensten Plattformen winzige Wissenssplitter zu einem Paket kompilieren, das auch den noch so speziellen SpecialInterest befriedigt. Kein Grundrauschen mehr. Keine vertane Lebenszeit mit der Lektüre von Sach- und Fachbüchern und ihren Abschweifungen, die auf dem Wege der Beantwortung einer bestimmten Frage notwendig in Kauf genommen werden mussten.
So wie Anfang der Neunzigerjahre in den Deutschunterricht als Bezeichnung gleichermaßen für Prosa und Lyrik der desillusionierende Begriff „Texte“ eingeführt wurde, stößt man im Netz jetzt auf „Content“. Egal ob „Cat-Content“ oder Schöngeistiges. Der Lektor mutierte vom kritischen Erstleser zum Content-Manager. Content aber ist Massenware und gehört in den Container. Literatur und anspruchsvolle Belletristik als Content zu bezeichnen mutet ähnlich verkehrt an wie der Schriftzug „Seltene Briefmarken“ auf der Plane eines Lastwagens.
Wirkungsvolles also nachhaltiges Lesen ist nicht digital distinkt, nicht punktuell, sondern immer ganzheitlich. Das heißt, es muss ein analoges Echo im Kopf hervorrufen, wo es sich zu einer individuell ganzheitlichen Struktur zusammensetzt, die sich auch aus der jeweils persönlichen Erfahrung speist. Ein solches Wissen ist nicht nur Content als Mittel zum Zweck, sondern wird immer auch persönlich empfunden. Die Suche nach schnell kompilierten Wissenssplittern im Netz ist daher kein Lesen, sondern das Verarbeiten von Informationen als Mittel zum Zweck.
Seit einiger Zeit gibt es HiFi-Puristen, die behaupten, Vinylplatten klängen irgendwie intensiver, inniger und wärmer als Musikdateien. Sie meinen, eine Platte vermittele mehr als eine MP3-Datei mit ihrer Abfolge digital distinkter Klänge. Analog scheint ihnen mehr mitzuschwingen als digital.
So ist es auch mit dem ganzheitlichen Lesen. Auch hier schwingt ein Grundrauschen mit, das wahrzunehmen bereichernder ist, als der bloße Konsum von genretypischem Content oder isolierten, zweckgebundenen KnowledgeBites. Denn gerade das diffuse Grundrauschen verbindet uns mit der Welt. Spezialisten dagegen, die versuchen, dieses Grundrauschen auszuschließen, um möglichst schnell auf den Punkt zu kommen, isolieren sich immer weiter in ihrer Blase und werden dadurch vielfach den komplexen Verstrickungen der Welt nicht gerecht.