Aktuell arbeite ich am dritten Teil von „Dismatched“. „Suete und der Leviathan“ wird er heißen und im Sog dessen habe ich versucht, mir noch einmal ganz konkret bewusst zu machen, worum es eigentlich bislang auf dem Schnürboden meiner Fantasien geht. Was bewegt da die Kulissen, wer zieht da die Fäden?
Mein Motiv und Thema ist der Widerstand.
Nun kann man sich einem Thema lebensprall fiktional oder abstrakt theoretisch nähern. Fiktional habe ich mich in den beiden ersten Teilen von „Dismatched“ ausgelebt. Bleibt die Theorie:
Mein Erklärungsversuch für das Leben, das Sein, so wie wir aufrecht gehenden Wassersäulen auf Kohlenstoffbasis es erleben und wahrnehmen, gipfelt für mich in einer Theorie und glücklicherweise oder leider (kommt eben wie immer auf den Standpunkt an) in einer Praxis des „Widerstandes“.
Im Grunde ist die Schöpfung oder die Evolution eines mit Selbstbewusstsein begabten Säugetieres, das an sich selbst und das Universum, in dem es sich fühlend und denkend (oder umgekehrt, ich will mich hier auf kein „Ranking“ festlegen) als „seiend“ vorfindet, existentielle Fragen stellt, ein Witz – und zwar von unserem Standpunkt aus gesehen, ein schlechter.
Falls wir Ergebnis der Evolution sind, wozu ich tendiere, ist das Ganze ein sinnloser Zufall, in dessen Kontext es ebenfalls sinnlos wäre, die Sinnfrage zu stellen. Im Menschen hinterfragt sich die Evolution (nach Hegel, die Geschichte) selbst? Der Evolution (und der Geschichte) ist das herzlich egal (natürlich haben sie keins). Und der Mensch hat mit seinen Fragen eben gründlich Pech gehabt.
Sind wir dagegen Produkt der „Kopfgeburt“ eines Geistes / Gottes (der natürlich auch keinen hat), zeugt es allenfalls von schlechtem Geschmack, seinen „Widerpart“ (da wären wir beim Thema), seine „Schöpfung“ auf der einen Seite physisch-materiell zu verfassen und auf der anderen Seite mit Geist auszustatten.
Denn da haben wir ein Geist begabtes, seiner selbst bewusstes, von der Idee der Ewigkeit und anderen höchst abstrakten Begriffen wie Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit etc. berührtes, aufrecht gehendes Säugetier, dessen schulterwärts positionierte Gliedmaßen nicht mehr dem Laufen, sondern kreativer Arbeit dienen. Um seinen maximal zwei Meter über dem Boden ragenden Kopf macht es zwar ein großes Gewese, muss aber immer noch Nahrung aufnehmen und ausscheiden und pflanzt sich noch dazu über einen Teil eben dieser entsprechenden Körperöffnungen lustvoll sexuell fort, bis sein Verbund aus Knochen, Fleisch, Blut und Bakterien der Verwesung anheimfällt. Vom Verbleib der elektro-chemischen Prozesse im Hirn, die unsere biografische Kontinuität und damit unsere Persönlichkeit ausmachen, ganz zu schweigen. Diese „Konstruktion“ halte ich für einen Witz.
Aber egal, wie wir die Frage des Ursprungs auch beantworten wollen, sei es ein Urknall (wie auch immer gelenkt und von welcher Energie auch immer gespeist), aus dem dann eine Evolution hervorging oder von welchem Geist auch immer geschöpfte „creatio ex nihilo“: Du und ich und alle anderen Zwitterwesen zwischen Geist und Materie müssen es ausbaden.
Wir finden uns gleichermaßen als denkende und als fühlende Wesen vor und haben, obwohl wir uns (tragischerweise) beide Seinsarten vorstellen können, nicht die Wahl zwischen dem reinen Geistwesen eines körperlosen Engels und dem physisch verfassten, instinktgebundenen Tier. Wir sind beides: Geist und Materie, Form und Substanz. Dazwischen zu stehen macht für mich das existentielle Dilemma des Menschen aus.
Begreifen wir Geist und Materie als unversöhnlichen Antagonismus, haben wir verloren, begreifen wir sie als konstruktiven Dualismus, haben wir – vielleicht – gewonnen.
Was dabei zwischen Geist und Materie vermittelt, ist für mich der Widerstand.
Vom Standpunkt eines physisch verfassten Wesens – und nur den kann ich „erkenntnistheoretisch“ einnehmen – sind Bewusstsein und Selbstbewusstsein ohne das Erleben eines Widerstandes nicht denkbar.
In der physischen Welt widersteht die Tischplatte dem Druck meines Daumens, nur so erfahre ich, dass es einen Daumen und eine Tischplatte gibt und wo mein gefühlvoller Daumen anfängt oder aufhört und wo der fühllose Tisch ist.
In der geistigen Welt kann ich mich selbst nur als meiner selbst bewusst wahrnehmen, wenn die Kontinuität meines Bewusstseinsstroms durch den Widerstand der Zeit untergliedert ist. Das ist vielleicht einer Melodie vergleichbar. Eine Melodie empfinde ich nie nur über den aktuellen Ton, sondern immer auch über die bereits vergangenen Töne und die, die ich erwarte. Ein Missklang entsteht, wenn ein anderer Ton erklingt als der, den ich in Erinnerung der vergangenen Töne erwartet habe.
In den Ekstasen (gr. Ekstasis: aus sich herausstehen) reiner Gegenwart habe ich mich nicht. Erst der Bezug auf Vergangenes und die Erwartung von etwas Zukünftigen lassen mich die Gegenwart und darin mich als aktuelle Befindlichkeit wahrnehmen. Die Zeit leistet mir hier Widerstand: Da die Vergangenheit vorbei und die Zukunft noch nicht eingetreten ist, ist allein die Gegenwart real und erst der Widerstand der Zeit gegen Vergangenheit und Zukunft schafft die Bedingung der Möglichkeit, dass ich mich in der Gegenwart überhaupt wahrnehmen kann.
Im aus mir Herausstehen, in der Ekstase aber verliere ich mich. Habe weder eine Vergangenheit, die ich reuevoll bedauern oder der ich sehnsüchtig nachtrauern kann, noch eine Zukunft, die ich ängstlich fürchten oder hoffnungsvoll ersehnen kann. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, heißt es. Macht die Ekstase der reinen Gegenwart glücklich? Muss ich also, um glücklich zu sein, mich selbst verlieren?
Viele Heilslehren in der Geschichte weisen diesen Weg. Im Buddhismus ist das Überwinden des Leidens, ich nenne es Widerstand, immer auch die Entselbstung, das Aufgehen des Ichs im Alleinen. Ekstase als Verlieren des Ichs scheint in allen Zeiten erstrebenswert. Bei Hermann Hesse sind sowohl Hure wie Heilige auf diesem Weg, führen Suff wie Askese zur Ekstase, zum Herausstehen des Ichs in reine Gegenwart. Nicht umsonst gab es in alten Kulturen eine Tempelprostitution …
Wie auch immer, alle Jenseitssehnsucht, jede Religion hat mit der Aufgabe des Ichs zu tun und stellt somit Überdauern und Kontinuität unserer individuellen psychischen Existenz nach dem Tod in Frage.
Nehmen wir den Widerstand zwischen Geist und Materie demütig an und streben nicht danach, unser Ich aufzulösen, ist dieser Dualismus die „felix culpa“, die „glückliche Schuld“, wie die Paradiesfabel auch gedeutet wird. Vor dem Sündenfall war der Mensch keiner, denn er hatte keinen Widerstand. Nachdem er aber vom Baum der Erkenntnis gekostet hatte, hatte er Widerstand. Zum Guten wie zum Schlechten. Zwar musste er sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen, konnte sich aber auch an dem, was ihm widerständig war, spüren und daran wachsen.
Die Sehnsucht eines rein geistigen Wesens nach Schicksal und Emotion zeigt sich im Bild des Mensch werdenden Engels (etwa in Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“ oder noch besser Brad Silberlings „Stadt der Engel“). Ein Engel gibt bewusst seine ewige Existenz auf, um ein fühlendes, am Widerstand wachsendes, aber doch letztlich sterbliches Wesen zu werden. Auch Schicksal und Glück, die niemals erwartbar und planbar sind, sondern einem ganz plötzlich widerfahren, hängen ja mit Widerstand zusammen.
Was nicht heißt, dass man, wenn es mit der Selbstverwirklichung und dem Wachsen am Widerstand schlecht läuft, nicht doch wieder die Entselbstung in Religion, Ekstase, Drogen, Suff, Neurose, Psychose, Sex, als Worcohalic etc. sucht.
Um auf die nach wie vor nicht entschiedene Frage von Evolution oder Schöpfung zurückzukommen: Um Aufschluss darüber zu gewinnen, wie die Welt entstanden oder geschaffen worden ist, sollten wir als physisch verfasste Wesen, die „mit einem Bein“ in der Sphäre des Geistes stehen, vielleicht versuchen, das Verhältnis zwischen Geist und Materie zu anthropomorphisieren. Dann ließe sich sagen, dass Geist und Materie, Form und Substanz einander bedürfen.
Denn ohne Materie hätte der Geist keinen Widerpart in einer wie auch immer gearteten Form. Er wäre wirkungslos, reines, in sich geschlossenes Potential, das sich nicht ausdrücken und realisieren könnte. Und ohne den formenden Geist hätte die Materie keine geordnete Struktur. Sie wäre dazu verdammt, ein sinnloser, ungeschlachter Klumpen zu sein und zu bleiben.
„Im Anfang war das Wort … Und das Wort ist Fleisch geworden …“ Das Wort (in unserem digitalen Zeitalter: die Information), der Geist, die Idee, Gott, schwebt, wie auch immer entstanden, vor dem Urknall oder der Schöpfung im raum-zeitlosen Nichts, ist prinzipiell wirkmächtig, bleibt aber zunächst wirkungslos. Dann – mit der „Schöpfung“ – schafft er sich selbst einen Widerstand, bewirkt Raum und Zeit und darin die Materie, die ihm Widerstand bietet, ihm entgegensteht, ihm ermöglicht, sich auszudrücken, etwas außerhalb seiner reinen Selbtsbezüge zu erleben.
Positiv, das heißt, gläubig, in welchem Sinne auch immer, ist es dann das: Geist, Gott oder das Alleine schaffen sich einen Widerpart, um sich selbst und außerhalb ihrer selbst etwas erleben zu können und das, was sie als ihren geistig formenden Stempel auf die ungestaltete Materie gedrückt und freigelassen haben, lieben sie unabdingbar, wie auch immer es sich entwickeln mag. Dann ist alles gut. Denn als beseelte und sich selbstbewusste Materie, die diesen Stempel, zwar ohne gefragt worden zu sein, aufgedrückt bekommen hat, sich aber der Gnade des Schöpfers sicher sein kann, darf ich mich trotz des allgegenwärtigen Chaos und Wahnsinns befriedet und in dem Gefühl zurücklehnen, wohl aufgehoben zu sein.
Negativ gefasst aber ist das letztlich nichts weiter als kreationistische Spielerei. Der reine Geist ist sich nicht selbst genug. Ihm ist schlicht langweilig. Ihm stößt nichts zu.
Es braucht eben immer zwei, es braucht den Widerstand. –
Und schon bin ich Spielball übernatürlicher Willkür …