Dismatched ist als Trilogie angelegt. Das, was jetzt vorliegt, umfasst die ersten beiden Teile „Urb und Klave“ sowie „View und Brachvogel“. Das alles ist in sich abgeschlossen, bietet aber viele Anknüpfungspunkte für einen dritten Teil, an dem ich gerade arbeite.
Erste Impressionen von der Fortsetzung zu Dismatched „Suete und der Leviathan“ findet ihr hier:
Prolog
Die aus dem Brunnenschacht heraufsteigende modrige Kühle überzog die Beine der dichtgedrängten Menge mit einer Gänsehaut, während ihre Schultern im warmen Sonnenlicht badeten, dass durch die weite Öffnung im Dach des ehemaligen Horts der Empfängnis einströmte.
Ungeachtet des unwürdigen Rituals, das hier einst zwischen Mannlingen, die ihren Dienst als Zeugungsträger abzuleisten hatten und angehenden Müttern, die der Klave ihre zwei oder drei Geburten schuldeten, vollzogen worden war, war dies doch von alters her ein besonderer und heiliger Ort. Getreu der Maxime, keine verbrannte Erde zu schaffen und das Alte in Bausch und Bogen zu verteufeln, sondern daran anzuknüpfen und es in sinnvolle neue Bahnen zu lenken, diente der Hort jetzt dazu, die Kinder der Paare, die sich gefunden hatten, in der Mitte der Klave willkommen zu heißen.
Etliche der vormaligen Mannlinge und ehemals so dünkelhaften und unterdrückerischen Frauen waren Paare geworden und das jetzt in die Gemeinschaft einzführende Kind war beileibe nicht das einzige, das seine Eltern würde kennen dürfen und dessen Abkommenschaft sich nicht wie in den vergangenen Zeiten der Großen Mondin im Dunkel der vergilbten Seiten des Buches der Blutlinien verlor.
Viele waren gekommen, um Views und Brachvogels Tochter willkommen zu heißen. Hand in Hand standen Mysia, die sachkundigste der Heilerinnen, mit ihrer Gefährtin Bera, einer ehemaligen Wächterin. Dahinter der stille Susurrus, der seine Menschenscheu überwunden und eine Freundin gefunden hatte, der er behutsam die Angst vor den gewaltigen Ebseln genommen hatte. Tiras weit vorgewölbter Leib kündete davon, dass die Klave bald weiteren Nachwuchs zu erwarten hatte. Belarus, der Sprachkundige, hatte in Luka, der Nachfolgerin der alten Sanguine, der Hüterin der Blutlinien, eine Partnerin und Seelenverwandte gefunden. Beide durchforsteten sie die alten Schriften nach Begriffen, die geeignet waren, die neuen Verhältnisse in der Klave abzubilden. Das sprachliche Umfeld von Wörtern wie Eltern, Vater, Bruder, Erzeuger oder Mannhaftigkeit konnte sie schier in Verzückung treiben. Kurabel, einstiger Meister der schnellenden Bollen, der sich jetzt völlig aufs Bogenschießen verlegt hatte, war mit der drallen Wega zusammen, die er, wohl eingedenk seiner früheren Begeisterung für die Bola, liebevoll seine kleine Bolle nannte. Wega organisierte mit Ragun, dem Wasserspürer die Bewässerung der in der Nähe der Lunagleis neu angelegten Felder.
Alle waren sie guter Stimmung, denn die Dinge in der Klave schienen sich trefflich zu entwickeln und selbst Sonor, dem ehemaligen Sprecher der Mannlinge, der zu einem verbitterten Hagestolz geworden war, spielte ein Lächeln um die Mundwinkel.
View und Brachvogel standen sich am Brunnen gegenüber. Sie hatten jeweils die Arme übereinander gekreuzt und ihre dabei nach oben gerichteten Handflächen ineinandergelegt, in deren Mulde ihr Kind lag.
Während View ihr Töchterchen bewundernd ansah, war dem sonst so selbstsicheren und gewandten Brachvogel die Rührung deutlich anzusehen. Einerseits barst er vor übermäßigem Vaterstolz, seine Tochter präsentieren zu können und andererseits hätte er sie, die er wie seinen Augapfel hütete, am liebsten wieder in die Geborgenheit ihrer Wiege gelegt.
Seine Tochter indes schien die ungewohnte Atmosphäre in keiner Weise einzuschüchtern. Ganz im Gegenteil hatte sie beide Fäustchen geballt und brüllte ihr Unbehagen, auf einmal so im Mittelpunkt zu stehen, aus Leibeskräften heraus, bis ihr zerknautschtes Gesichtchen krebsrot angelaufen war.
„Die Kleine hält mit ihrer Meinung jedenfalls nicht hinter dem Berg, wisperte Ferruma, die Eisenfrau, ihrem Mann Diver zu. „Das ist gut, man kann nicht früh genug damit anfangen zu sich zu stehen, auch wenn unser Brachvogel in seiner übertriebenen Fürsorge ein Gesicht macht, als würde er seine Tochter gerne so schnell wie möglich wieder in seinem Viereckhaus in das schöne Wiegenbettchen verfrachten, das ihre Mutter ihr gefertigt hat.“
Als Erblast aus den glücklich überwundenen Zeitläuften der Großen Mondin herrschte in der Klave ein unausgesprochenes Misstrauen eingefahrenen Riten und Gebräuchen gegenüber. Und so gab es keine feste Zeremonie für die Einführung eines neuen Lebens in die Gemeinschaft. Aber Brachvogel und View hatten sich Worte zurechtgelegt, die sie jetzt gemeinsam sprachen:
„An diesem Ort zwischen dem Quell des Lebens und dem Licht, das alles überstrahlt, nehmen wir dich hiermit im Geiste der Großen Mutter in unsere Gemeinschaft auf. Mögest du wachsen und gedeihen. Mögest du den Kern deines inneren Wesens finden und das zur Reife und Vollendung führen, was in dir angelegt ist. Möge dir daraus Zufriedenheit und Glück erwachsen und mögest du anderen damit ein Quell der Freude und Bereicherung sein. Dein Name sei Sueteh.“
Auf beiden Seiten von einer jungen Frau gestützt schob sich jetzt mühsam Phyta, die uralte Schamanin, die ihre Sprache verloren hatte, nach vorne und sah das Kind lange an. Zitternd öffnete sie die Lippen und kaum hörbar, mit tonloser, dem Sprechen lang entwöhnter Stimme, die aus dem Abgrund der Zeiten zu kommen schien, flüsterte sie: „Ich bin überglücklich und dankbar, dass es meinen alten Augen noch vergönnt war, dieses Kind erblicken zu dürfen. Suete wird einst die Welten verbinden.“
Der kleine Kaiser
Langsam auf dem Bauche rutschend und sich bedächtig um seine Längsachse drehend mäanderte das Baby quer durch die üppig mit Ornamenten und Reliefs ausgeschmückte Halle, deren Decke sich hoch wie der Himmel über ihm wölbte. Immer wieder hielt es inne, hob das Köpfchen und schien seine Umgebung zu prüfen. Das auf seine Windel geprägte Wappen zeigte ein symmetrisch um die Mittelachse gespiegeltes System von Röhren und Ventilen, vor dem ein stilisierter Adler mit ausgestreckten Fängen schwebte.
Der kleine Junge war der jüngste Trieb am weitverzweigten Stammbaum des alten Imperators und im Gegensatz zu seinen elf älteren Brüdern auch mit zehn Monaten noch nicht in der Lage, auf allen Vieren zu krabbeln. Aber was seine Brüder in diesem Alter an motorischer Agilität und Geschicklichkeit aufgebracht hatten, mochte der Kleine vielleicht durch stille Betrachtung wett machen. Seinen aus dem pausbäckigen Gesichtchen hervorlugenden Augen schien nichts zu entgehen und wenn er keinerlei Stimuli ausgesetzt war, saß er die meiste Zeit völlig passiv und bewegungslos in einer Ecke und beobachtete stumm das Geschehen um sich herum, ohne dass auch nur die geringste Regung seiner Gesichtsmuskulatur hätte erahnen lassen, was dabei in ihm vorging.
Jetzt aber war er aktiver als sonst, denn er war erstmals in ein Konditionierungsareal mit einem Set vielfältiger Stimuli gesetzt worden, die sein gesamtes sensorisches Spektrum abdeckten. Auf der mit verschiedenartigen Texturen, Farben und Mustern ausgestalteten Fläche drehten sich filigrane und plumpe Objekte, lagen die verschiedensten Materialien von weich bis hart, lockten Näpfchen mit Speisen und Getränken von süß bis sauer, breiteten sich in bestimmten Sektionen intensive oder flüchtige Gerüche aus und schwebten hier und da monotone, kakophonische oder melodiöse Klänge über dem Ganzen.
Wie würde der jüngste Spross des Imperators unter dem Eindruck dieser Reizüberflutung durch visuelle, auditive, olfaktorische, haptische und gustatorische Stimuli reagieren, fragten sich die drei imperialen Konditionierer, die das Areal gemäß ihrer bisherigen Kenntnisse über den kleinen Kaisersohn arrangiert hatten und jetzt mit Argusaugen überwachten. Ihre hohe Aufgabe war es, als pädagogische Auguren das Verhalten des Kleinen mit dem seiner Brüder in diesem Alter zu vergleichen und daraufhin zu beurteilen, ob er sich einst eignen würde, seinem Vater auf den Thron nachzufolgen. Aber vor allem sollten sie eine Prognose stellen, ob er dem Imperator schon vor der Zeit gefährlich werden konnte.
Nun verharrte der Kleine mitten im Raum, hob das Näschen empor und schien zu wittern. Offensichtlich waren seine Riechepithele von einen der Gerüche affiziert worden, die an verschiedenen Stellen des Areals emittiert wurden. Er verlagerte seine Körperachse und begann langsam auf die Duftquelle zuzurollen. Nach etlichen Fehlversuchen, die ihn an seinem Ziel vorbei oder über es hinaustrugen, lag er vor dem Emitter auf dem Bauch, reckte das Köpfchen und patschte sich mit beiden Händchen den Geruch in die Nüstern.
Was war das? Eine überwältigende Sensation, die übermächtig in seiner kleinen Seele widerhallte und Impressionen in ihm aufstiegen ließ, die sein Empfinden völlig ausfüllten. Mehr! Er wollte mehr davon, wollte sein ganzes Selbst in diesem Duft baden, ihn trinken und bis in die letzte Pore seines kleinen Körpers aufnehmen. Der Geruch, der so vieles in ihm anrührte und er wurden völlig eins und er schwelgte in einem Gefühl wohliger Losgelöstheit und Geborgenheit.
Doch plötzlich war da etwas anders, etwas, das sein Schwelgen überlagerte und sich dumpf und drohend auf seine Brust zu legen begann. Unruhig rührte er sich, wollte den Druck von sich schütteln, doch das Unwohlsein nahm weiter zu und er rollte sich hin und her und bewegte sich so langsam von der Quelle seines Wohlbefindens weg. Allmählich dann konnte er wieder freier atmen, der Druck begann nachzulassen und ebbte völlig ab. Keuchend blieb er regungslos auf dem Bauch liegen.
Aber da vorne war es doch so schön gewesen. Unwiderstehlich zog es ihn dorthin zurück, wo er eben noch so glücklich gewesen war. Ein leiser Abglanz des Duftes erreichte ihn noch, er aber wollte ins Zentrum, sich wieder ganz den Empfindungen hingeben, die ihn eben noch durchflutet hatten.
Der Kleine stemmte sich auf alle Viere und begann, seinem Näschen folgend, erneut auf den Geruch zuzukrabbeln. Da war es ja wieder, dieses allumfassende Wohlgefühl, in dem er sich jetzt erneut aalen konnte.
„Sieh an, Ihre kleine, lethargische Majestät ist willensstärker als gedacht. Aber das wird sich ändern lassen“, meinte einer der pädagogischen Auguren und zog den Regler seiner Infraschallkanone hoch.
„In seinem Alter sind seine Brüder in dem gleichen Setting aufgeregt kreischend zu jedem Stimulus hin gekrabbelt und haben, sobald sie ein Unwohlsein erfuhren, sofort davon abgelassen, um sich wahllos schnell etwas Neuem zuzuwenden. Aber übertreibe es nicht mit der Schalldosis. Der Imperator will seinen männlichen Nachwuchs zwar nach allen Regeln unserer Kunst sozialisiert und auf Herz und Nieren geprüft wissen, dürfte es aber äußerst übelnehmen, wenn sein Jüngster schon zu Tode kommt, bevor er überhaupt in der Lage ist, ihn zu stürzen“, warnte ein anderer.
Hier! Hier wollte er bleiben. Nichts anderes mehr erleben. Hier war alles gut. Ganz so wie in der wohligen, dunkelroten, samtenen Geborgenheit des nachgiebigen Kokons, der ihn umfangen hielt, bevor es ihn unerbittlich durch die enge Röhre in das grelle, kalte Licht des Außen gepresst hatte.
Aber da, wieder dieser Druck, der sich auf seine Lunge legte, als ob sich einer seiner älteren Brüder mit seinem vollen Gewicht auf seinen Brustkorb wuchtete. Der Bewegungsdrang wurde übermächtig und erneut trieb es den Kleinen von der Quelle seines Wohlbehagens weg. Als der Druck nachließ, blieb er nach Luft ringend auf dem Rücken liegen.
Doch das konnte einfach nicht sein. Warum durfte er nicht dorthin, wo es ihm so gut ging? Abermals kam der Kleine auf alle Viere.
Diesmal war der Griff des Infraschalls so stark, dass es ihn am ganzen Körper schüttelte.
„Lass es gut sein“, sagte einer der pädagogischen Auguren. „Schalt diesen Mutterleibsodeur ab und gönn‘ der kleinen Hoheit etwas Ruhe, bevor wir sie neuen Stimuli aussetzen.“
Auf dem Konditionierungsareal zog der kleine Kaisersohn wimmernd die Knie unters Kinn und kauerte sich in Embryonalhaltung zusammen.
Seelenmaler
Mit blicklosen Augen hockte der junge Mann auf einem Schemel, Daumen und Zeigefinger der linken Hand leicht auf Schläfe und Stirn des Schläfers gelegt, der neben ihm auf einer Liege ruhte. Von Zeit zu Zeit reckte und streckte sich der junge Mann und schüttelte die Hand aus, um dann wieder seine Position einzunehmen. Auf dem Schemel zu sitzen war zwar unbequem, doch es verhinderte, dass er einnickte und in die eigene Traumwelt abdriftete.
Balgur war ein Seelenmaler. Er bannte die Bilder der Traumgesichte der Menschen auf ihre Haut. Diesen Schläfer hatte er jetzt die halbe Nacht traumlang begleitet und es wurde zunehmend mühsam, sich zu konzentrieren und zu versuchen, das, was er mit den Fingerspitzen der linken Hand zu erspüren glaubte, in sich hineinfließen zu lassen und mit der Rechten auf das Blatt zu werfen, das er im Schoß ausgebreitet hatte. Dabei war es wichtig, sich von allen Eindrücken der Außenwelt abzuschotten. Träumer und Maler mussten einen geschlossenen Kreislauf bilden, ganz so, wie die in sich zurückgebogene Ouroboros-Schlange, die ihren Schwanz im Maul hielt und die Balgur sich als Zeichen seiner besonderen Gabe auf die linke Schulter hatte tätowieren lassen.
Er schrak hoch. Jetzt war er doch weggedämmert. Er warf einen Blick auf die Gebilde, die er mit Zeichenkohle auf sein Blatt geworfen hatte. Was mochte das sein? Er spürte in die Fingerspitzen seiner Linken hinein. Mehr würde er diese Nacht wohl nicht mehr erfahren. Nun kam zunächst alles darauf an, die Bilder, die im Nachklang noch in seinem Kopf haften geblieben waren, so aufs Papier zu bringen und seine Skizzen zu vervollständigen, ohne dass sein ordnender Verstand das Ergebnis verfälschte. Hier schon die gewohnte Realität in die Traumgesichte einfließen zu lassen, war der Sache nicht förderlich. Umgekehrt musste es sein. Erst wenn das, was seine Träumer am Morgen im Spiegel erblickten, sie stutzen, staunen und vielleicht gar betroffen machte, hatte er sein Ziel erreicht. Das Alltägliche abbilden konnten viele, aber dem tiefsten Inneren von Schläfern Bilder zu entreißen und auf ihrer Haut Gestalt annehmen zu lassen, bedurfte seiner ganz besonderen Begabung.
Wer oder was seine Hand dabei führte, wusste Balgur nicht. Sobald er versuchte, willentlich etwas festzuhalten und zu zeichnen, ebbte der Strom seiner Vorstellungen ab und es war, als würde sich das aus einem Weinschlauch kräftig ergießende Labsal abrupt durch einen in die Auslassöffnung getriebenen Korken unterbrochen. Er musste vielmehr darauf vertrauen, dass ihn seine Intuition schon leiten würde.
So war es auch diesmal. Ohne dass Balgur hätte sagen können, was er da zeichnete, entstand aus seiner Skizze das Bild von etwas vielgestaltig Schwebenden, das sich feingliedrig auf dem Papier ausbreitete. Und halt, da kam noch mehr. Zu dem filigranen Etwas gesellte sich nun etwas kompakt Gedrungenes mit vielen kurzen Auswüchsen, das in die Vielgestalt einzubrechen schien.
Balgur nahm das Blatt in beide Hände und streckte die Arme aus, um die Zeichnung mit Abstand begutachten zu können. Was mochte das sein? Er, der Seelenmaler, musste sich mit Interpretationen und Auslegungen zurückhalten. Denn er war nur das Medium, das etwas sichtbar machte, nicht aber die Quelle, aus der es erwuchs. Zu dem Träumer musste das Bild sprechen. Doch waren es die Menschen nicht gewohnt, sich bewusst mit den ungewohnten und erstaunlichen Manifestationen ihrer Träume auseinanderzusetzen. Und etwas, das dem Betrachter völlig fremd gegenüberstand, konnte schwerlich zu ihm sprechen. Es bedurfte eines Anknüpfungspunktes an etwas Vertrautes, Bekanntes, von dem sich dann eine Botschaft ableiten ließ. Und hier begann das, was Balgur seine Übersetzertätigkeit, seinen Dienst am Kunden nannte.
Waren die Bilder bislang gänzlich ungeschminkt und unzensiert durch ihn hindurchgeflossen, machte er sich nun daran, diese noch ungestalten Schatten der Träume in ein Licht zu rücken, das dem Betrachter Deutungsmöglichkeiten an die Hand geben konnte. Er hatte viel Erfahrung mit Traumgesichten und hoffte, dass dieses Licht die Schatten nicht zu sehr verfälschte und entstellte. Aber was nutzte es dem Träumer, wenn er eine zwar unverfälschte Botschaft erhielt, diese aber nicht verstehen konnte.
Nicht zuletzt wurden Balgurs Bilder, nachdem er sie auf Brust, Bauch oder Rücken der Träumer übertragen hatte, mit Stolz zur Schau gestellt, zeugten sie doch davon, dass es sich hier um jemanden handelte, der sich tiefgründig mit sich selbst beschäftigte und nicht nur oberflächlich vor sich hinlebte. Vielfach ließen sich Träumer ihre Bilder auch dauerhaft unter die Haut stechen. Das aber war Balgurs Sache nicht. Träume waren flüchtig, wandelten und veränderten sich und wenn man ihre Bilder verstetigte und ihnen beständig anhing, mochte das in Sackgassen oder gar auf einen völlig falschen Weg führen.
Dass seine Bilder zu reinem Hautschmuck verkommen könnten, sah er zwiespältig. Seine Arbeit faszinierte ihn und wenn er an der Miene eines Träumers, der sich erstmals im Spiegel betrachtete, ablesen konnte, dass ihm die auf seine Haut gebannten Traumschatten etwas sagten, ihm über irgendetwas Aufschluss gaben, war es sein höchstes Glück, diesem Menschen geholfen und ihn vielleicht weitergebracht zu haben. Andererseits aber musste er leben und seine Dienste waren gefragt und wurden gut bezahlt.
Natürlich kam es auch vor, dass die Bilder nicht gezeigt wurden und mehrfach waren die Züge von Träumern beim Blick in den Spiegel völlig entgleist und sie hatten verlangt, die Traumschatten sofort von der Haut zu tilgen. Aber auch das war Balgur Beweis für seine Fähigkeit, Dinge ans Licht zu fördern, die etwas in den Leuten auslösten.
Was hatte er nun also hier? Etwas fein Gegliedertes und etwas wuchtig Massiges. Die Schraffuren dort mochten Federn sein. Ein Vogel! Und zwar einer mit fünf paar Flügeln und drei Hälsen, auf denen Köpfe saßen, deren einer einen Kamm besaß wie ein Hahn, ein anderer völlig kahl war und in einen gewaltigen Schnabel auswuchs und ein weiterer, der drei Augen trug. Und dann das andere. Diese Ausstülpung am vorderen Ende war vielleicht ein Rüssel – und das, was dort oval herabhing? Ein Bart? Nein – ein Ohr. Aber ein nach unten gerichtetes Ohr. Und diese Auswüchse an beiden Seiten. Beine? Ein, ein Schwein. Ein auf dem Rücken laufendes Schwein! Ein vielköpfiger, mehrflügeliger Vogel, den ein rücklings sich bewegendes Schwein rammte. Balgur war immer wieder erstaunt, was sich im Lichte seiner Übersetzertätigkeit letztlich offenbarte.
Inzwischen war das Feuer heruntergebrannt und das diffuse Licht der aufkommenden Dämmerung füllte das Rund seiner Hütte. Anders als seine Gefährtin Suete, die wie ihr Vater Brachvogel klare, gerade Linien liebte, fühlte Balgur sich zwischen geschwungenen und runden Formen wohl. Zwar fand er den Kult um die Mondin und ihr Gebot von Demut und Besonnenheit, von dem immer noch erzählt wurde, reichlich sonderbar, aber die Vorstellung einer Mutter Natur, die in Kreisläufen waltete, erschien ihm sinnvoll. Auch sein Wirken als Seelenmaler war ein Kreislauf und deshalb die in sich geschlossene Ouroboros-Schlange sein Symbol. Er erspürte die Bilder in den Tiefen der Träumer, hob sie empor und brachte sie von innen nach außen auf deren Haut, ganz so, als wäre diese durchsichtig und erlaubte ihnen wieder einen Blick in ihre Seele.
Leise rührte Balgur jetzt an die Schulter des Schlafenden.
„Ich habe erspürt und gesehen, was während deines Schlafs in dir verborgen war und werde es nun, wie besprochen, auf deine Brust übertragen. Lass deine Augen geschlossen. Die Striche und Schwünge meiner Pinsel werden wie der Abglanz deiner Träume ganz sanft über deine Haut fahren.“
Balgur machte sich an die Arbeit. Als Zugeständnis an Schönheit und Wirkung gestaltete er die Traumschatten hier und da etwas gefälliger und setzte auch Farbe ein.
Er war begierig, auch Suetehs Träume auszuloten. Mehrfach schon hatte er Anläufe unternommen, sie dazu zu überreden, einmal ihre Träume begleiten zu dürfen, doch bislang hatte sie ihm das stets verweigert, ohne ihm Gründe dafür zu nennen.